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Russland und das 3. Reich
Zur Bedeutung seiner Moskauer Sozialisierung für Bernhard Wolfs künstlerisches Schaffen
Herwig G. Höller
Die Kulturpolitik der Steiermark hatte die „Überwindung des Bollwerks“ und das künstlerische Experiment seit den 1960ern nahezu zur Maxime erhoben – insbesondere die Dreiländertriennale „Trigon“ (1963-1991) und der steirische Herbst (1968-) hatten dies auch immer wieder illustriert. In diesem gedeihlichen Klima konnte die Grauer Kunstszene trotz ihrer Überschaubarkeit wiederholt eine kleine, selbst internationale Vorreiterrolle einnehmen. Und gerade, was Kunst aus der Sowjetunion betrifft, landete die Stadt in den späten Achtzigern Scoops, die in die russische Kunstgeschichte eingingen. So brachte Peter Pakesch, damals künstlerischer Leiter des Grazer Kunstvereins, 1987 den Moskauer Konzeptualisten Ilja Kabakow nach Graz: Es war Kabakows erste Reise ins westliche Ausland und der Beginn einer glänzenden internationalen Karriere. 1988 folgten Einladungen des Kunstvereins an Konstantin Swesdotschotow und German Winogradow, 1989 die durchgeknallte Riesenausstellung „Russian mind“ im Wallgebäude, 1990 ein großangelegtes Projekt namens „Die Wand“ am Institut für Baukunst der TU Graz.
Obwohl Bernhard Wolf – wie auch seine Grazer KünstlerkollegInnen – die meisten dieser Projekte mit großer Aufmerksamkeit rezipiert hatte, fand sein richtiger Einstieg in die russische Kunst erst über den steirischen Herbst 1991 statt: Zur prominent besetzten Gruppenausstellung „Körper und Körper“ (u.a. mit Herbert Brandl, Mirosław Bałka, Franz West u.a.) hatte Pakesch auch den Moskauer Undergroundkünstler Aleksandr Ljaschenko alias Petljura eingeladen und Wolf als dessen Assistenten engagiert. Petljura zeigte damals eine seiner Kleider-Rauminstallationen im gotischen Saal des Stadtmuseums und beschäftigte sich mit Österreichklischees, indem er als „russischer Mozart“ performte.
Die Bekanntschaft, Freundschaft und künstlerische Kooperation mit Petljura und dessen Umfeld sollte im Werk des damals angehenden Grazer Künstlers alsbald zu bemerken zu sein. Denn vieles, womit sich Wolf in Folge beschäftigen sollte, lässt sich auch im Kontext und als Interaktion mit der russischen Kunstszene verstehen. Das betrifft nicht nur Austauschprojekte mit offensichtlichem Russlandbezug, sondern auch jene, die sich vermeintlich rein auf Österreich zu beziehen scheinen. Dies gilt selbst für eine Abschlussarbeit an der juridisches Fakultät der Grazer Universität, die von der Freiheit der Kunst und ihren Grenzen handelte. Obschon sich Wolf hier formal mit der österreichischen Rechtslage beschäftigte – die behandelte Frage war im Russland der frühen Neunzigerjahre um ein Vielfaches aktueller als in Österreich – aktionistische Spielarten des Moskauer Radikalismus, die am russische Strafrecht keinesfalls halt machten, erreichten seinerzeit ihren Höhepunkt. 1992 und 1994 hatte sich der Grazer Künstler jeweils für längere Zeit in Petljuras Community am Moskauer Petrowski Bulwar aufgehalten und die damalige Atmosphäre sichtlich eingeatmet.
Diesen Moskauer Einfluss sieht man aber auch in einem künstlerischen Projekt, das auf den ersten Blick ebenso österreichisch zu wirken scheint. Seit Mitte der Neunziger beschäftigte sich der Künstler mit dem totalitären Erbe des Dritten Reichs. Während die Republik 1995 groß fünfzig Jahre Kriegsende feierte, ließ sich er sich für einen Monat ein „Hitlerbärtchen“ wachsen. Aber nicht nur das: Der Künstler verfremdete historische Sujets, kommentierte Fotos aus dem Dritten Reich auf despektierliche Weise und ließ sich formal unspektakulär mit seinem Bärtchen als „unbekannter Soldat“ porträtieren. Die gesammelten Arbeiten wurden schließlich im Büchlein „Die wahre Geschichte des Dritten Reichs“ zusammengefasst, das der Künstler in einer kleinen Auflagezahl selbst publizierte. Die Miniaturen provozierten – in Bezug auf das Sujet „Ozean der Gefühle“, wo nummerierte Punkte zu einem Hakenkreuz verbunden werden konnten, kam es sogar zur Androhung einer Anzeige.
Im österreichischen Mainstream war diese Art von Humor seinerzeit zweifelsohne verpönt. Und auch in Deutschland, dessen Massenkultur bekanntlich einen wichtigen Einfluss auf Österreich ausübt, wurden brachiale Humorattacken gegen das Dritte Reich erst um die Jahrtausendwende geritten. Als Paradebeispiele gelten Walter Moers zunächst umstrittener Comic-Reihe „Adolf, die Nazi-Sau“ (1998-2006) oder Dani Levys Filmparodie „Mein Führer – Die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler“ (2007).
Aus einer Moskauer Perspektive war Wolfs Zugang völlig verständlich: Er praktizierte ein Niedermachen von Autoritäten, das in den russischen Neunzigerjahren zu einem wichtigen künstlerischen Verfahren avanciert war. Seine Reaktion auf die NS-Vergangenheit, die seinerzeit in der ehemaligen „Stadt der Volkserhebung“ durchaus noch spürbar war, erinnert in ihrer Emotionalität konkret an karikaturartige Bilder des Moskauer Künstlers Konstantin Swesdotschotow. Dieser hatte während seines Graz-Aufenthalts 1988, so meint er, noch echte Altnazis beobachtet und sich später wiederholt in Arbeiten über das NS-Regime und dessen dumpfere Momente lustig gemacht. Aber auch Petljura und Co. dürften Wolf mitinspiriert haben: Die Community von Aleksandr Ljaschenko zeichnete sich in ihren kollektiven künstlerischen Manifestationen durch ein trashig-karnevaleskes Umwerten vieler Werte aus, auch mit Klischees wurde anarchisch gespielt. Selbst die Österreichikone Mozart, so hatte sich ja schon beim ersten Graz-Besuch Petljuras gezeigt, konnte da nicht „heilig“ sein. Und zwangsläufig musste dies auch für andere „österreichische“ Ikonen wie Hitler und Schwarzenegger gelten. Letzterem setzte Wolfs alter Bekannter Aristarch Tschernyschow gemeinsam mit Wladislaw Jefimow 2002 in einem „Terminatordenkmalprojekt“ ein provokant-virturtuelles Monument.
Doch zurück in die frühen Neunziger, die für Wolfs künstlerische Sozialisierung maßgeblich erscheinen. Während Millionen RussInnen diese Zeit als eine soziale Katastrophe in Erinnerung haben, bot sie für KünstlerInnen faszinierende Möglichkeiten: Vor dem Hintergrund einer postsowjetischen Tabula rasa wurden grundlegende gesellschaftliche Mechanismen sichtbarer als in den vergleichsweise stabilen westeuropäischen Gesellschaften, ermöglichte die Umbruchzeit Chancen für künstlerische Interventionen, die zudem oftmals für große Aufmerksamkeit sorgten. Insbesondere galt dies für den öffentlichen Raum. Mit dem Ende der Sowjetunion war hier einerseits die offiziöse Plakatpropaganda verschwunden, andererseits steckte „kapitalistische“ Produkt- und Markenwerbung, wie sie im westlichen Ausland seit Jahrzehnten praktiziert worden war, in den Kinderschuhen. Diese Art von Werbung im öffentlichen Raum, die 1993/94 langsam im Stadtbild russischer Metropolen aufzutauchen begann, war zunächst bei der Bevölkerung äußerst umstritten: Aus St. Petersburg ist überliefert, dass der erste Versuch der städtischen U-Bahn, Werbung in den Stationen zuzulassen, nach Bürgerprotesten zurückgenommen werden musste. Erst im zweiten Anlauf klappte es.
Für KünstlerInnen war die Arbeit auf einem gewissermaßen unbefleckten Spielfeld äußerst verlockend. Noch bevor eine umfassende Kommerzialisierung einsetzte, zeigten 1994 gleich zwei Projekte in Moskau und St. Petersburg, an denen Wolf jeweils beteiligt war, Plakatarbeiten im öffentlichen Raum. Im St. Petersburger Projekt „Ideologie und Kommunikation“ machte sich anonymer Widerstand zu bemerken – kleinformatige Plakate Wolfs wurden alsbald zerstört. In Moskau hatte hingegen der Künstler Aristarch Tschernyschow im von ihm kuratierten Unterfangen „Die Kunst gehört dem Volke“ von Anfang an mit einem Außenwerbeunternehmen kooperiert, das die künstlerischen Plakate von zwei Dutzend KünstlerInnen affichierte. Der Außenwerber hatte die Kunst wohl auch als preisgünstigen Testballon für eine zunehmende dichte kommerzielle Bespielung seiner Werbeflächen gesehen, die damals eben von der Bevölkerung noch heftig kritisiert wurde.
Aber auch die Bildsprache in Wolfs grafischem Werk lässt sich als Reaktion auf den seinerzeit zu füllenden Leerraum interpretieren. Und der Titel von Tschernyschows Projekt, mit dem vormals in der Sowjetunion eine „Volkstümlichkeit“ der Kunst gefordert worden war, darf für seinen künstlerischen Zugang als nahezu paradigmatisch gelten. „Die Kunst gehört dem Volke“, hatte Lenin 1920 der deutschen Kommunistin Clara Zetkin gesagt: „Sie muss ihre tiefsten Wurzeln in den breiten schaffenden Massen haben. Sie muss von diesen verstanden und geliebt werden.“ Nicht nur, dass Wolfs Engagement im öffentlichen Raum davon zeugt, dass er an einem Dialog mit möglichst vielen BetrachterInnen interessiert ist. Einfache Piktogramme, die aus der Populärkultur entlehnt sind oder es zumindest sein könnten, holen den Betrachter auf vertrauten Territorium ab. Die hinzugefügten Schlagwörter, die insbesondere Wolfs Plakatarbeiten auszeichnen, weigern sich hingegen, ein konventioneller Bildtext zu sein.
Der Petrowski Bulwar färbte aber insbesondere auf Wolf als Teilnehmer bzw. Organisator größerer Kunstaktionen ab. Nicht nur, dass er gemeinsam mit der legendären Pani Bronja (1924-2004) gemeinsam ausstellte – die verarmte Pensionistin war von Petljura in einen Kunststar verwandelt hatte, gemeinsam ausstellte. Wiederholt importierte die Grazer Künstlergruppe FOND, der Wolf seit den frühen Neunzigerjahren angehört hatte, buntes Moskauer Kunstleben nach Graz – mit einem Höhepunkt im steirischen Herbst 1996, als der FOND gemeinsam mit KünstlerInnen aus Moskau eine große FONDweltSCHAU mit Österreicherrevue produzierte. Wolfs damalige Wohnung in der Morellenfeldgasse hatte sich für einige Wochen nahezu in den Petrowski Bulwar verwandelt und ein produktiver Austausch zwischen zwei sehr unterschiedlichen Kunstszenen spätestens damals nachhaltige Spuren hinterlassen. In Wolfs Kunst sind sie bis zum heutigen Tag unverkennbar.
Herwig G. Höller, freier Journalist und Slawist, lebt in Moskau und Graz