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Quasi-Ikonen / Kunst in urbanen Übergangszonen
Judith Laister
Projekt IN ALLE NETZE, 10 Wandmalereien im öffentlichen Raum Graz, 2013
Transcapes
Verlassene Tankstellen, leer stehende Läden, Baulücken, Autoleichen, Brachland: Urbane Übergangszonen in einem Zustand des Nicht-Mehr und Noch-Nicht finden sich in jeder Stadt, weltweit, von ähnlicher Typologie. Ihr vages Stadium wird angezeigt durch wild wuchernde Pflanzen, bröckelnde Fassaden, Schutthaufen und Müll. Natur bemächtigt sich technischer Infrastruktur, klare Funktionen werden von scheinbarer Nutzlosigkeit überlagert, nicht-menschliche Akteure dominieren menschliche Aneignungsformen. Oft liegen diese Übergangszonen in ökonomisch gering bewerteten, imageschwachen Stadtteilen – dort, wo sich Investitionen nicht mehr oder noch nicht lohnen, wo Eigentümer wie Stadtentwickler keinen akuten Handlungsbedarf sehen, wegschauen oder einfach abwarten.
In Anlehnung an Arjun Appadurais Konzept der „Scapes“ als wesentlicher Figur zur Beschreibung unseres global vernetzten Raum-Zeit-Kontinuums lassen sich derartige Übergangsräume als urbane Transcapes bezeichnen: als städtische Landschaften, die zwar lokal verortet sind, sich aber gleichzeitig ihrer Lokalisierung entziehen, einer eindeutigen Identifikation verweigern und sozial wie ökonomisch undefiniert bleiben. Ist Stadt in traditionell europäischem Verständnis ein narrativer Raum, geprägt von Geschichte und Geschichten, kulturell klar codiert und sozial determiniert, so zeichnen sich urbane Übergangszonen durch Desintegration und funktionelle Verweigerung aus. Im städtischen Zeichensystem, dominiert von Sehenswürdigkeiten, Werbeikonen, architektonischen Landmarks und anderen funktionstüchtigen Raumeinschreibungen, bleiben Transcapes bedeutungsoffen. Sie fördern weder das städtische Image, das als ideologisches Steuerungsinstrument geplant, gestaltet und warenförmig zu sein hat, noch dienen sie vordergründig irgendeiner Sache, wie dem Sozialen, der Wirtschaft oder einfach nur dem Menschen. In urbanen Übergangsräumen steht die „Reinigungsarbeit“, die mit Bruno Latour prägend für die Ausbildung moderner Gesellschaften und somit auch moderner Städte ist, still. Die feinsäuberliche Trennung des Stadtraums in klar definierte Funktionszonen weicht der Ausbildung „hybrider Netzwerke“, in denen nicht-menschliche Wesen zu Akteuren und die Grenzen zwischen urbaner Infrastruktur/Natur, Architektur/Mensch, Objekt/Subjekt neu ausgehandelt werden.
Als „Risse im Stadtgefüge“ und „Leerstellen“, die nicht von Architektur oder Werbung ausdefiniert sind und somit schöpferischen Freiraum eröffnen, bezeichnet und sucht der Künstler Bernhard Wolf urbane Übergangszonen in Graz und anderen Städten. Seine jüngste Werkserie „In alle Netze“ erweist sich als konsequente Weiterführung und Wiederaufnahme stadträumlicher Interventionen zwischen Moskau und Graz, Frohnleiten und Maribor seit den frühen 1990er Jahren. Die teils poetisch-assoziativen, teils ironischen, stets vieldeutig lesbaren Text/Bild-Kommentare zu den Zeichensystemen des öffentlichen Raums finden sich zwar auch an zentralen Treffpunkten (zb. nahe der Oper, in Fußgängerzonen, auf Marktplätzen), doch auch dort bespielt Bernhard Wolf ephemere Orte wie Plakatwände oder bereits von anderen Akteuren als Werbeträger adaptierte Infrastrukturen wie Bauzäune, Laternenmasten, Stromkästen oder Telefonzellen. Viele dieser frühen Plakatierungen erfolgten anonym oder als kommunikative Raumpraxis ohne Auftrag bzw. offizielle Legitimation im künstlerischen Feld. So wurden vor allem im Rahmen seiner Aktivitäten unter anderem mit der Künstlergruppe FOND leerstehende Gebäude temporär reaktiviert, die – wie die Grazer Postgarage – teils heute noch gefragte Veranstaltungsorte sind; ein abgestelltes Autowrack gerierte, tapeziert und plakatiert, zum Beitrag für die FOND-Ausstellung „Schleuse“, wurde so dem Blick städtischer Raumkontrolle ausgesetzt und dem baldigen Abtransport übergeben; und schließlich arbeitet Bernhard Wolf selbst seit kurzem in einem einst leerstehenden Geschäftslokal am Grazer Griesplatz, der zentrumsnah, aber wenig prestigeträchtig bereits im Fokus künftiger Stadtentwicklung steht. „Urbane Pioniere“ heißen im Gentrifizierungsdiskurs jene sozialen Akteure, die als Squatter oder Zwischennutzer städtische Übergangsräume temporär bespielen und mit ihren kreativen Raumpraktiken soziales wie symbolisches Kapital in imageschwache Areale einspeisen.
Ikone/n
Ob urbane Übergangszonen oder städtische Zentren von Kultur und Kommerz: Wenn Bernhard Wolf seine ikonischen Zeichen und Textbotschaften in den öffentlichen Raum einspeist, so tut er das mit einfachen Mitteln in reduzierter Formgebung. Die meisten Sujets sind schwarz auf weißem Grund und nach den internationalen Standardmaßen von Papierbögen bzw. Plakatwänden dimensioniert. Weitere wiederkehrende Prinzipien mit Referenz auf die Manipulationstechnologien der Marketingindustrie sind Serialität, die Kombination eines eindringlichen Bildes mit einem knappen Slogan sowie deren gut sichtbare Applikation auf vertikalen Flächen in städtischen Arealen. Wie ihre kommerziellen Mitspieler im Ringen um öffentliche Aufmerksamkeit vervollständigen sich auch Bernhard Wolfs Äußerungen erst durch ihre Überlagerung mit den inneren Bildwelten der Menschen. Jeder soziale Akteur ist visuell und sprachlich habitualisiert, kann entsprechend seiner Sozialisierung bestimmte Codes lesen, während andere nicht dechiffrierbar sind. Man muss, zunächst ganz grundsätzlich, über Lesekompetenz in deutscher Sprache verfügen, um Textzeichen entschlüsseln zu können. In Bernhard Wolfs jüngster Arbeit „In alle Netze“ sind das etwa die Begriffe „Zeit“, „Spirituelle Extravaganz“, „Traum“, „Brot, Wurst, Petersilie“, „rechts, links“ oder „Kraftwerk“. In der Serie „Mythos 2000“, die anlässlich des steirischen herbst 1995 auf einer Plakatwand vor der Grazer Oper appliziert wurde, waren es Worte im Bedeutungskosmos einer „österreichischen Mythologie“ wie etwa „Heinz Conrads, Dalai Lama“, „Cordoba 1978“ oder „Das Deutsche in mir“. Und auf anonymen Plakatierungen der 1990er hieß es etwa „Scharlatan“, „Olympisches Gold“ oder „Attacke“.
Auch unter der Voraussetzung, dass die Texte denotativ erfasst werden können, wird das Konnotat je nach kultureller und sozialer Positionierung der Leser_innen ein anderes sein, abhängig davon, was in deren mentalen Reservoirs gespeichert liegt. Dabei gibt es Begriffe, die stärker kulturell und sozial verankert sind (wie etwa „Cordoba 1978“ , Amanda Klachl oder Heinz Conrads), und andere, die zwar individuell verschiedene Assoziationen aufrufen, aber nicht notwendigerweise auf spezifische Inhalte eines kollektiven Gedächtnisses verweisen – wie „Brot, Wurst, Petersilie“, „Zeit“ oder „Kraftwerk“. Dieser prinzipiellen Uneindeutigkeit von Worten steht eine noch umfassendere Polysemie ikonischer Zeichen gegenüber. Nicht alle sehen alle Bilder gleich. Wieder sind es, um hier in Hans Beltings (2005) bildanthropologischer Terminologie zu sprechen, die „inneren Bilder“, die im „Akt der sinnlichen Wahrnehmung“ die „äußeren Bilder“ vervollständigen und somit den Menschen als „Ort der Bilder“ ins Zentrum eines ästhetischen Produktions- und Rezeptionsprozesses stellen. Jede/r decodiert Bilder seinem Habitus entsprechend, folgt unterschiedlichen, kulturell wie sozial geprägten Assoziationsimpulsen. Wer etwa über kunsthistorische Kenntnisse verfügt, findet in Bernhard Wolfs ikonischem Repertoire Ähnlichkeiten mit Werken aus Op-Art, Pop-Art, Informel oder Konzept-Kunst. Wem die Ikonen der österreichischen Konsum- und Medienwelt oder die Icons virtueller Welten vertraut sind, vermag gemeinsame Eigenschaften mit diesen zu assoziieren. Während klassische Reklame auf diese Relativität der Bildwahrnehmung gezielt reagiert, indem die positiven Merkmale eines Konsumgutes auf unterschiedlichen ikonischen und verbalen Zeichenebenen hervorgehoben werden, wollen Bernhard Wolfs Einschreibungen in den Stadtraum weder fetischisieren noch manipulieren. Vielmehr wollen sie „Widerhaken streuen“, um Sehgewohnheiten zu brechen: „Nichts wird verkauft, nichts wird angekündigt, sie sind nicht im Vorbeigehen konsumierbar.“ (Bernhard Wolf) Wenn etwa in der Serie „In alle Netze“ an die freigelegte Ziegelwand einer Baulücke großformatig dunkle, konzentrisch flirrende Kreise auf weißen Grund gemalt und mit dem Begriff „ZEIT“ untertitelt werden, so inszeniert Bernhard Wolf ein Ikon mit verbalem Kommentar, das die Funktion ikonischer Manipulation klar verweigert: Eine Quasi-Ikone, die weder mit den Sehnsüchten potentieller Konsument_innen spielt, noch klare Befehle erteilt (Glaube! Kaufe! Konsumiere!) oder auf Kult und allgemeine Gültigkeit setzt, sondern in ihrer Uneindeutigkeit irritiert und hybride Vernetzungen in verschiedene Richtungen eingeht.
Quasi-Ikonen
Nach Bruno Latour beschreibt das Konzept des Quasi-Objekts weder ein Ding noch ein Subjekt, sondern deren „innige Verschmelzung, in der sich die Spuren beider Komponenten (…) verwischen“ (Latour 2008: 70). Quasi-Objekte sind handlungspotentielle Akteure, die sich mit anderen menschlichen und nicht-menschlichen Wesen zu hybriden Netzwerken verknüpfen. Sie sind dabei nicht statisch einem gesellschaftlichen Feld verhaftet, sondern zirkulieren zwischen verschiedenen symbolischen Ordnungen, suchen stets nach neuen Verbindungen und Anschlüssen. Durch diese Übersetzungen in andere Felder kommt es zu sogenannten „Drifts“ samt inhärenter Bedeutungsverschiebungen. Durch die Latour´sche Brille des Quasi-Objekts lassen sich auch Bernhard Wolfs künstlerische Interventionen in städtischen Übergangszonen besser sehen und verstehen. Es sind nicht reine, abgeschlossen-statische „white cubes“, in denen seine Bilder betrachtet werden wollen. Vielmehr besetzen sie unreine, dynamisch-offene Orte des städtischen Raums, wo Putz bröckelt (Baulücken…), Natur und Zeit die Hauptakteure sind (Abbruchhäuser…) und Kunst nicht notwendigerweise vermutet wird (Plakatwände…). Gleichzeitig scheint es, als würde nicht ein geniales Künstlersubjekt, vermittelt durch die kohärente Bedeutungseinheit eines künstlerischen Objekts zu uns sprechen, sondern die Dinge selbst, verstrickt in vieldimensionale Verbindungen. Das Abbruchhaus mit seinen abblätternden Farbschichten wird ebenso zum gleichberechtigten Akteur der künstlerischen Aussage wie die „natürliche“ Umgebung der Ghettopalmen, die verkehrstechnische Infrastruktur stark befahrener Straßen oder die architektonische Nachbarschaft offizieller Sehenswürdigkeiten. Gerade wegen der emanzipierten Position materieller wie atmosphärischer Raumqualitäten spielt im Zuge des Rezeptionsprozesses auch der Standort der Betrachtung eine integrale Rolle. Nicht nur der Blick auf das Sujet, sondern auch die Perspektive des Sujets auf sein urbanes Umfeld ist Teil des eröffneten Interaktionsraums. Die „ZEIT“ samt flirrenden konzentrischen Kreisen schaut gegen die Einbahn, vorbei an Brache und leerstehendem Lebensmittelladen auf das städtische Entwicklungsgebiet Griesplatz. Dort blickt die Installation „Brot, Wurst, Petersilie“ über dem Schaufenster eines ungenutzten Geschäftslokals direkt auf den gegenüberliegenden Atelierraum des Zwischennutzers Bernhard Wolf. Es wird sich zeigen, wie lange noch, denn wer Transcapes gezielt bespielt, würdigt und fördert das Ephemere als konzeptuelles Grundprinzip.
Judith Laister, Kulturanthropologin und Kunsthistorikerin, forscht und lehrt an der Karl Franzens Universität Graz
Literatur
Appadurai, Arjun (1996): Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis.
Belting, Hans: Bildanthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München 2001.
Latour, Bruno (2008 [1991]): Wir sind nie modern gewesen.
Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt/Main.