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Die Stadt der guten Absichten
Alisa Sawizkaja
Nischni Nowgorod ist eine russische Großstadt, die am Zusammenfluss der Flüsse Oka und Wolga liegt. Gegründet im Jahr 1221 setzt sich die Stadt heute aus einigen größeren Industrievierteln und dem historischen Zentrum zusammen. In Nischni Nowgorod kam der Schriftsteller Maksim Gorki zur Welt und lebte auch hier, in der Stadt präsentierte der Ingenieur Wladimir Schuchow auf der 16. Allrussischen Gewerbe- und Kunstausstellung des Jahres 1896 erstmals seine einzigartigen Metallkonstruktionen, hier befanden sich einige der ganz großen sowjetischen Fabriken, Nischni Nowgorod war der Verbannungsort für den Erfinder der Wasserstoffbombe und berühmten Dissidenten Andrej Sacharow, in dieser Stadt wurden aber auch unter der Leitung des 2015 ermordeten Politikers Boris Nemzow im ersten Jahrzehnt des neuen Russlands äußerst mutige wie innovative Reformen umgesetzt. Nachdem in den 1990er Jahren ein Niedergang des architektonischen und historischen Erbes zu bemerken war, folgte im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends die schrittweise Vernichtung von ganzen Straßenzügen und Vierteln, die neuen Wohnhäusern Platz machten. Das Leben des Stadtzentrums von Nischni Nowgorod kann heute als komplexes Drama verstanden werden – hier verbinden sich wunderbare Naturräume, verfallende Altbauten und eine sich aus den Baugruben erhebende neue Stadt des Günstlingskapitalismus.
Diese schmerzlichen Transformationen des Stadtraums ließen auch die Kunstszene nicht unbeeindruckt: Lokale KünstlerInnen begannen in den 2010er Jahren die Stadt für sich zu erschließen, wobei sie, hinsichtlich der Inhalte und der verwendeten Medien, den Rahmen einer Straßenkunst-Subkultur sprengten. Auf alten, ihre letzten Tage erlebenden Häusern tauchten monumentale, mehrere Meter große Bilder mit allegorischen Sujets auf, in die Fassaden wurden mitunter Objekte integriert. Im Lauf von nur wenigen Jahren verwandelte sich Nischni Nowgorod derart in ein Kunstlaboratorium unter freiem Himmel, wo nahezu in jedem Hof ein fertiges Kunstwerk sowie Ober-flächen für eigene künstlerische Statements zu finden sind. Es war genau diese Situation, in die der Künstler Bernhard Wolf im Sommer 2014 eintauchte.
Wolf verfügt seit langer Zeit über enge Verbindungen nach Russland, er ist ein Kenner der russischen Kunstszene und kann als vollwertiges Mitglied des Kreises um Kult-Künstler Aleksandr Petljura gelten. Wolf war oftmals im postsowjetischen Russland. Die Kenntnis der russischen Sprache und Kultur sowie der spezifischen Organisation des russischen Lebens erlaubten es ihm, nicht bloß ein Tourist zu sein, sondern ein echter Forscher. Wobei Wolf jedoch vor seinem Aufenthalt in Nischni Nowgorod 2014 lediglich in der Kunstszene der Hauptstadt Russlands präsent war und noch keinerlei Berührung punkte mit der Provinz hatte.
Bernhard Wolfs Interaktion mit Nischni Nowgorod lief auf zwei Ebenen ab: Einerseits arbeitete er mit den lokalen Künstlern Artjom Filatow und Wladimir Tschernyschow zusammen, die ihm bei der Erforschung des Stadtraums und eines von Außen unsichtbaren inneren Lebens behilflich waren. Seine künstlerischen Interventionen, die mit Tschernyschows und Filatows Unterstützung realisiert wurden, waren dabei im streng juristischen Sinn illegal. Zwei großformatige Arbeiten, die auf alten Holzhäusern aus der Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstanden, waren lediglich mit den HausBewohnerInnen, jedoch nicht mit der Stadtverwaltung abgesprochen. Die erste dieser beiden Arbeiten, „Fels“, wurde in Nischni Nowgorod konzipiert und steht in einer offensichtlichen Verbindung mit einer spezifischen Eigenart der Stadt. Die zweite Arbeit, das Porträt eines kleinen Eskimos, wurde aus vom Künstler zuvor entworfenen Sujets im Zuge seiner Gespräche mit den BewohnerInnen einer Straße ausgewählt, welche bereits von Vertretern der neuen Welle von Nischni-Nowgoroder Kunst (Andrej Druschajew, Wladimir Tschernyschow, die Gruppe „Toj“) erschlossen worden war. Diese Arbeit Wolfs schrieb sich harmonisch in den lokalen Kontext ein; bei Exkursionen zur
Straßenkunst in Nischni Nowgorod wird heute nicht nur dieses Werk gezeigt, sondern auch eine verkleinerte Kopie, die eine unbekannte Kinderhand auf der Wand desselben Hauses angebracht hat.
Das aufwendigste Projekt „Erde“ entstand hingegen mit der institutionellen Unterstützung des Nischni-Nowgoroder Arsenals, eines der führenden Zentren für zeitgenössische Kunst in Russland. Der mehrere Meter große Schriftzug „Ich komme von der Erde und habe gute Absichten“ befand sich am Ufer des städtischen Strandes unter der Stütze einer Seilbahn. Diese gilt seit 2012 als eine der städtischen Hauptattraktionen, die an Seilen hängenden kleinen Kabinen fahren vom höheren Ufer hinunter, sie „fliegen“ über Wiesen einer Flussbucht und kehren dann nach einer Strecke von 3,6 Kilometern wieder zurück. Die Seilbahn wurde aus aus dem Bedürfnis errichtet, Nischni Nowgorod mit seiner Satellitenstadt Bor für PendlerInnen zu verbinden. Diese PendlerInnen aus dem Arbeiterstädtchen und die BewohnerInnen der glücklichen Megapolis, die sich aus echtem Bedarf oder aus Vergnügen zwischen den zwei Ufern hin und herbewegen, waren auch die Adressaten dieses Projekts. Im Laufe des Jahres 2014 existierte der Schriftzug in einer ursprünglichen Version, die sich an außerirdische Zivilisationen wendet, und auch in Form einer Fotodokumentation, die in der Ausstellung österreichischer Kunst „Desiring the Real“ im Nischni-Nowgoroder Arsenal und anschließend im Zentrum für
zeitgenössische Kunst in Moskau gezeigt wurde. Im Frühjahr 2015 begann die lokale Bevölkerung jedoch dieses Kunstwerk zu redigieren und sukzessive einzelne Wörter auszutauschen („Ich komme aus Bor und habe nicht gute Absichten“, „Ich komme aus Bor und habe mieserute (ein Wortkonstrukt zwischen „miserabel“ und „gute“) Absichten“). Zum Zeitpunkt, als diese Zeilen entstanden, hatten die BewohnerInnen Bors das letzte Wort und verwandelten Wolfs Arbeit in die Erklärung: „Ich komme aus Bor und habe gute Absichten“. Die einzige Äußerung, die keine Korrekturen und Ergänzungen von lokaler Seite erfuhr, war die bereits erwähnte Arbeit „Fels“. Diese Arbeit steht im Zusammenhang mit der literaturzentristischen Tradition des Moskauer Konzeptualismus, dessen Begründer Ilja Kabakow/Ilya Kabakov, Wiktor Piwowarow und Erik Bulatow ihre Werke auf dem Verhältnis von Text und visueller Abbildung aufbauen. Bei Wolf steht das Wort „Fels“ in einer semantischen Opposition zu einer Welle, die es illustriert, womit der Künstler eine konflikthafte Beziehung zwischen Bild und Worteinheit auf die Spitze treibt.
„Fels“ fand sich auf der Seitenfassade eines halbverlassenen Holzhauses unweit eines der zentralen Plätze der Stadt. Dieser Platz ist seinerseits Standort eines Maksim-Gorki-Denkmals der bekannten sowjetischen Bildhauerin Wera Muchina. Die sieben Meter hohe Bronzefigur des „Sängers der Revolution“ steht dabei auf einem Granitfelsen, der an das berühmte „Lied vom Sturmvogel“ (1901) erinnert, eines Vorboten für tragische Veränderungen: „[…] Zornig / Wirft der Wind sich auf die Wasser. / Er umfasst sie rudelweise / Packt sie in die starken Arme. / Schleudert sie mit blindem Wüten an die Klippen / Wo die hell-smaragdnen Wogen / Brechen und zu Tropfen werden.“
Alisa Sawizkaja, Kuratorin, Leiterin des Ausstellungsabteilung des Staatlichen Zentrums für zeitgenössische Kunst, Nischni Nowgorod, Russland