Mehr „Entkommunisierung“!
Dana Brezhnieva

Fast 25 Jahre sind vergangen, seit die Ukraine aufgrund des Zusammenbruchs der Sowjetunion ihre Unabhängigkeit erlangt hat. Doch im Lauf der Zeit sieht die Unabhängigkeit der Ukraine mehr und mehr wie eine rein formale aus. In diesem Zeitraum haben zahlreiche Ereignisse auf eine echte Unabhängigkeit von Russland abgezielt. Dazu gehören die Orange Revolution, der Euromaidan und der militärische Konflikt in der Ostukraine. Nichtsdestotrotz könnte es sein, dass das vordringlichste Problem des Landes ein Inneres ist: seine Abhängigkeit von sowjetischen Verhaltensmustern.

Die erst kürzlich erfolgte Verabschiedung einer    Reihe von Entkommunisierungsgesetzen ist ein Beleg dafür. Das Gesetz „Zur Verurteilung kommunistischer und nationalsozialistischer totalitärer Regime in der Ukraine und zum Verbot der Propaganda ihrer Symbole“ hat zu heftigsten Debatten über dieses Gesetzes-paket geführt. Gemäß diesem Gesetz lässt sich das Strafmaß für die Verwendung sowjetischer Symbole nur mit ähnlichen Daten aus Südkorea vergleichen, einem Land, das sich in höchst vehementer Art und Weise von seinem Nachbarn im Norden distanziert, wogegen dies in Polen, Litauen, Ungarn und anderen postkommunistischen Ländern zumeist als Verwaltungsdelikt eingestuft wird.

Natürlich muss zunächst klar eingeräumt werden, dass der Prozess der „Entkommunisierung des Volkes“, vom „Leninopad“, dem Abriss von Lenin-Denkmälern, bis hin zur sorgfältigen Ab-deckung von „Hammer und Sichel“ mit dem Wappen der Ukraine auf Wandgemälden in Spitälern und Freizeitzentren in diesem Land ohnehin im Gange ist. Doch nachdem dieses Gesetz in Kraft getreten war, war es auch ganz legitim, einzigartige Mosaike zu zerstören, wie zum Beispiel bei der Demontage der Mosaikdekoration der Kiewer U-Bahn, die kommunistische Symbole aufwies. Heutzutage neigt man dazu, in diesen Objekten ausschließlich die Manifestation sowjetischer Ideologie zu sehen und zu vergessen, dass sie Kunstwerke sind und AutorInnen haben.

Unter solchen Umständen vollzieht sich der Prozess der Entkommunisierung mit Methoden, derer sich einst eigentlich die Bolschewiken bei ihrer Zerstörung der Denkmäler des imperialen zaristischen Russlands bedient hatten. Das sind genau dieselben Methoden, mit denen der IS mit dem Hammer Denkmäler zertrümmert und Museen zerstört, und wofür ihn auch die ganze Welt verurteilt. Möglicherweise sorgt diese Art von einstimmigem „Gedenken und Abrufen“ der eigenen Geschichte für eine Verzögerung in der Entwicklung und verkompliziert somit den Aufbau einer „demokratischen“ Zukunft, die in den Slogans des Maidan proklamiert wurde.

Bernhard Wolfs Projekt, das auf einer assoziativen Reaktion und einem Crossover von Logos und Slogans aus dem Alltag eines Individuums beruht, kam da genau zur rechten Zeit. Während er in der ukrainischen Hauptstadt im schwierigen Kontext einer unsicheren Zukunft, permanenter Veränderungen, und widersprüchlicher Definitionen arbeitete, fand der Künstler intuitiv ein einfaches und klares Symbol. „ZIRKA“ (STERN) gibt keine Antworten, sondern wirft Fragen auf, von denen die folgenden am wichtigsten sind: „Was für eine visuelle Form begleitet ein kurzes Wort?“ und „Was für eine Form können solch wirklich wichtigen Prozesse der mentalen und territorialen Abgrenzung der Ukraine aus der sowjetischen Vergangenheit und der russischen Gegenwart herausholen?“ Das ganze Land befand sich scheinbar in einem Zustand der Totalamnesie und fängt nun allmählich an, sich an etwas Schmerzvolles zu erinnern, von dem
man viel lieber hätte, es wäre in Vergessenheit geraten. Aber das Problem verschwindet nicht von selbst, wenn man bloß seine Augen fest verschließt oder ein Wandbild abträgt. Ohne Reflexion verschiebt sich das Problem in die Tiefen des Unterbewussten und wird sich sicher in Erinnerung rufen, auch wenn man nicht weiß, wann und in welcher Form dies passieren wird.

Klar ist jedenfalls, dass die heraldische Sprache, die vom autoritären Sowjetregime so aktiv genutzt wurde, sich in das Bewusstsein mehrerer Generationen von UkrainerInnen eingeprägt hat. Und alle mit diesem Schrecken zusammenhängenden Ängste sind berechtigt. Die Gegenwart wird auf dieselbe Art und Weise gestaltet und interpretiert wie die Vergangenheit. Der Prozess des Aufbaus eines neuen Staates, der äußerst konsistent und ausgewogen sein muss, läuft gerade Gefahr, wieder einmal zum Gegenstand von Manipulationen seitens regierungstreuer und voreingenommener Strukturen zu werden. Heute wird uns die Form in sowjetischer Manier wieder von oben verordnet. Das mögen Sie nicht? – Aber es ist per Gesetz geschützt.

Bernhard Wolf schafft sein Werk „SON“ (TRAUM) auf den Wellen des Dnjepr, so als würde er ein stilles Vergessen der BürgerInnen des ganzen Landes herausstreichen. Kann es wahr sein, dass 65 Jahre seiner Existenz so etwas wie eine Infusion, ein Geist gewesen sind? Wenn man mit einer Ladung kalten Wassers ins Gesicht aufgeweckt wird, ist es in der Tat schwierig, sich sofort zu orientieren, gerade zu stehen, klar und sinnvoll zu sprechen, eine Entscheidung zu treffen und weiterzumachen. Jedoch ist
die Angst davor, wieder zu schlafen, genauso absurd wie die
in „Nightmare on Elm Street“. Jeder Traum ist wahr, solange
er andauert.

Bernhard Wolf hat sich dafür entschieden, die Arbeit „MAMA IKEA NATO“ in der urbanen Landschaft zu zeigen, und durchdringt damit die Hauptstadt mit der Einschreibung einer mantraartigen Wortzusammenstellung auf einem kleinen Blatt Papier. Einer der Hauptgründe für die Schaffung der NATO im Jahr 1949 war der Schutz des Westens vor dem Einfluss der UDSSR. Doch heutzutage ist der mütterliche Schutz dieser Organisation für Länder der ehemaligen Sowjetunion erstrebenswert. Was das Wort „IKEA“ betrifft (dieses Unternehmen hat keine offizielle Repräsentanz in der Ukraine), bemerkte Wolf beim Künstlergespräch ironisch: „Ich kaufe selber preisgünstige Möbel und richte damit meine Wohnung ein, genauso wie meine Freunde und Nachbarn – IKEA ist Einrichtungs-Sozialismus in Reinform“. Im sowjetischen Sozialismus, der sich vom schwedischen deutlich unterschied, war der DurchschnittsbürgerInnen-Haushalt eher von der Krise gekennzeichnet. Unter anderem befriedigte der Staat die Bedürfnisse seiner BürgerInnen auf dem Weg zur Arbeit und wieder nach Hause an den U-Bahn-Stationen, die mit Mosaiken der besten Kunstschaffenden jener Zeit geschmückt waren. Und sogar trotz der gegenwärtigen Übersättigung mit
Bildern ist vor diesen visuellen Personifikationen einer „strahlen-den Zukunft“ an den Stationen jeder mit Ehrfurcht erfüllt: virile Arbeiter, hart arbeitende Kolchosenbäurinnen, tapfere Soldaten, pflichtbewusste Studierende.

Die regierungstreuen Strukturen in der heutigen Ukraine verpflichten sich der Bekämpfung aller ästhetischer Erscheinungsformen linker Ideologie, und setzen diese völlig mit dem Projekt des Sowjetstaates gleich. Und in derselben Weise, wie die einzelnen Worte in „MAMA IKEA NATO“ semantisch verschieden sind, muss die heutige Ukraine den Bedeutungsgehalt der Begriffe „Kunstwerk“, „Sozialismus“ und „bürokratischer Apparat“ auseinanderhalten.

Dana Brezhnieva, Leitende Kuratorin, Mala Galleria,
Mystetskyi Arsenal, Kiew, Ukraine